Nach langem Schweigen im Blogwalde, möchte ich an dieser Stelle einmal eine Idee zur Diskussion stellen. Gerne übrigens zu einer kontroversen Diskussion, aber auch zu einer konstruktiven, beispielsweise hinsichtlich möglicher Anwendungsszenarien. Ich freue mich über zahlreichen Beiträge!

Ein überwältigender Anteil jeglichen Lernens findet in völliger Autonomie statt: das informelle Lernen. Dabei verschaffen wir uns aktiv fehlendes Wissen, tauschen uns über Erfahrungen aus oder entwickeln neue Handlungskompetenzen. Dies geschieht in einem Mass von Eigenverantwortung, von der wir in formellen Lernformen nur träumen können.

Einflüsse

Nach meinen Erfahrungen als SCRUM Master in einem Software Entwicklungsteam habe ich die Erfahrung gemacht, dass die mit dieser Methode verbundene Autonomie auch in Arbeitsprozessen zu wachsender Eigenverantwortung führte. Das Entwicklungsteam bestimmt den Umfang und die Zusammenstellung seiner Aufgaben für jede Iteration selbst und übernimmt dafür die volle Verantwortung über Umfang und Qualität der Produktionsergebnisse. Diese Methode und meine durchwegs positiven Erfahrungen damit, haben mein Modell vom autonomen Lernen entscheidend geprägt. Für die Lektüre dieses Beitrags empfiehlt es sich, die Methode SCRUM hier näher anzuschauen.
Wenigstens ebenso grossen Einfluss hat ein Projekt aus der Bildungsforschung von Prof. Gerhard Roth vom Lehrstuhl für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Uni Bremen. Roth sprengt damit nicht nur die 45 Minuteneinheit, sondern wirft zudem noch die Fachgrenzen über Bord und fordert wenigstens einen Tag pro Woche, an dem die Schüler fächerübergreifend arbeiten und dabei von den Fachlehrern unterstützt werden. Einen sehr anregenden Artikel hierzu können Sie im GEO Magazin, in der Ausgabe vom Mai 2013 (Wie das Lernen besser gelingt) finden.

Im folgenden Text werde ich – soweit sinnvoll – Lehr- und Lernprozesse in bewährten SCRUM Prozessen und Methoden beschreiben.

Lerninhalte

Der Lehrgang wird in verschiedene Stufen aufgeteilt und jede Stufe enthält eine Gruppe von Fachownern (die eigentlichen Fachlehrer, im betrieblichen Umfeld vielleicht die Fachexperten. Im Folgenden: FO), die die Lerninhalte formulieren und verantworten. Diese FO kippen ihre Lernstories in das Backlog, wobei sie darauf achten müssen, dass die Stories miteinander korrelieren und der jeweiligen Stufe angemessen sind. Dies ist insbesondere fachübergreifend eine Herausforderung. Eine Forderung an das autonome Lernen mittels Scrum ist es jedoch, dass Themen aus allen Fächern der Stufe mit einander kombiniert werden . Dies könnte für die schulische Bildung beispielsweise ausgehend von einem naturwissenschaftlichen Thema das Kennenlernen bestimmter Naturphänome beinhalten, die dann in den Fächern Physik bzw. Mathematik näher erfasst und errechnet werden . Das Fach Deutsch könnte diese Beobachtungen nun in das Erlernen der Berichtserfassung darstellen, oder sich mit der lyrischen Beschreibung von Natur aus der Zeit der Romantik beschäftigen. Der Geschichtskanon könnte die historische Entwicklung der entsprechenden Naturentdeckung in den gesamtgeschichtlichen Kontext einbetten, ähnlich könnten sozialwissenschaftliche Fächer mit dem gesellschaftlichen Kontext thematisieren. Etc.
Den Schülern als Mitglieder eines SCRUM Teams kommt es nun zu, zu Begin einer jeden Iteration zunächst zu definieren, wie viele Story Points sie in der definierten Anzahl für die Iteration zur Verfügung stehenden Tage abarbeiten wollen, um dann innerhalb des Backlogs die vorhandenen Stories hinsichtlich ihrer Komplexität und des daraus zu erwartenden Aufwandes zu schätzen. Anschliessend picken sie so viele Stories, wie sie innerhalb des festgelegten Rahmens zu bewältigen können meinen. Eine jede Iteration hat als Ziel, dass im Anschluss an den Sprint ein Referat als Gruppenarbeit und Hausarbeiten oder Klausuren über die einzelnen Themen als Einzelarbeit abgeliefert werden können. Stories, die nicht bewältigt werden konnten oder die in der Bewertung der Deliverables als nicht bestanden benotet werden, kommen zurück ins Backlog und müssen in einer der folgenden Sprints abgearbeitet werden. Dies kann den FO ebenfalls zur Beurteilung ihres Backlogs dienen und dazu führen, dass diese Korrekturen an ihren Stories vornehmen.

Lernarbeit

Die Mitglieder des SCRUM Teams kommen regelmässig zusammen (was auch virtuell möglich ist). In den Schätzmeetings sehen sie sich die Stories an, die vom FO priorisiert im Backlog abgelegt wurden und versuchen miteinander abzuschätzen, wie viele Story Points sie dafür veranschlagen würden. Die Story Points sind nicht à Priori mit Tagen gleichzusetzen, sondern sollen die Komplexität und den damit verbundenen Aufwand umschreiben. Schätzungen sind immer Näherungswerte, die nach einer gewissen Lernkurve in der Anwendung von SCRUM genauer werden können. Es ist jedoch immer möglich, dass Stories deutlich über- oder unterschätzt werden können. Ein weiteres Ereignis für das Zusammenkommen des SCRUM Teams sind das Story Picken und Sprint Planning. Diese Veranstaltungen stellen den Startpunkt eines jeden neuen Sprints das. Hier wird vom Team entschieden, wie viele Story Points insgesamt in der kommenden Iteration bewältigt werden können (dies muss nicht immer gleich sein, wenn es beispielsweise Abwesenheiten einzelner Mitglieder, Ferienzeiten, Feiertage etc. zu beachten gibt). Sodann werden die Stories gepickt, die das Team im neuen Sprint bearbeiten möchte und zwar so viele, bis die Anzahl der geplanten Story Points erreicht ist. Gleich im Anschluss an das Story Picken findet das Sprint Planning statt. Hierbei werden die gepickten Stories in Einzeltasks heruntergebrochen und als konkrete Aufgaben einzelnen Teammitgliedern oder Kleingruppen innerhalb des Teams oder auch dem gesamten Team zur Gruppenarbeit zugewiesen. Diese Aufgabe muss das Team selber bewerkstelligen, es soll dabei jedoch vom SCRUM Master (bei der schulischen Bildung der Klassenlehrer, im betrieblichen Umfeld dem Trainingsverantwortlichen) unterstützt werden. Die Tasks der einzelnen Stories werden in der ersten Spalte einer Tabelle untereinander dargestellt. Diese Tabelle bietet die Möglichkeit, den Fortschritt der einzelnen (Teil)Aufgaben zu dokumentieren und damit jedem stets einen Überblick über den Gesamtstatus des Sprint zu geben. Die weiteren Spalten der Tabelle sind überschrieben mit „in Arbeit“, „erledigt“, „zurückgewiesen“ und abgeschlossen.

MockedTaskBoard

Das Teammitglied, das mit der Bearbeitung eines Tasks beginnt, verschiebt diesen in das Kästeli „in Arbeit“ und – wenn die Aufgabe aus seiner Perspektive fertiggestellt ist – weiter in die Spalte „erledigt“. Nun ist der FO gefragt, der das (Teil)Ergebnis der Aufgabe prüft und entweder auf „erledigt“, oder auf „zurückgewiesen“ setzt. Im letzten Fall sollte er einen Kommentar hinzufügen, damit das Team den Task wieder aufnehmen und korrekt abschliessen kann.
Ein weiteres wichtiges Merkmal von SCRUM sind die Daily Scrums, also ein tägliches Treffen der Dauer von maximal 15 Minuten, das auch wiederum in einem virtuellen Raum stattfinden kann. In diesem Meeting kommt jedes Teammitglied zu Wort und berichtet der Gruppe, was es seit dem letzten Daily Scrum gemacht hat, was bis zum nächsten Daily Scrum geplant ist und ob es irgendwelche Probleme gibt, die die Arbeit erschweren oder behindern. Es sollen dabei keine sachlichen Fragen geklärt werden, dazu könnten allenfalls Verabredungen getroffen werden.
Begleitet und gecoacht wird das Team von einem SCRUM Master, der bei allen Treffen anwesend ist und dort eine moderierende Funktion innehat. Dies ist noch wichtig, denn ein autoritär eingreifendes Verhalten wurde die Autonomie der Gruppe verletzen. Der SCRUM Master vermittelt auch mit den FO, wenn sachliche Fragen oder Probleme aufkommen, die das Team aus eigener Kraft heraus nicht lösen kann.
Der letzte Baustein in diesem Model ist der Sprint Rewiev. Hier wechselt das Team auf die Metaebene und bewertet die eigene Performance im abgeschlossenen Sprint. Hier können Probleme, aber auch Erfolge in der Teamarbeit besprochen werden, ebenso wie die Lernkurve in den entwickelten Lern- und Arbeitsstrategien. Dieser Bestandteil ist daher wichtig, weil die Lernenden dabei ihr eigenes Lernen als Prozess reflektieren und sie sich daher auch dabei weiterentwickeln können.

Anwendungsbereiche

Anwendungsbereiche sind sowohl in der Schul (konkret in der gymnasialen Oberstufe)- und Hochschulbildung möglich, wie auch in der beruflichen Aus- und eingeschränkt in der beruflichen Weiterbildung möglich. Zugrunde liegen muss ein geschlossenes Curriculum, das am Ende aller Sprintiterationen bewältigt worden sein muss. Hier bieten sich Berufsausbildungen an, oder Weiterbildungszyklen (Führungsseminar, aber auch Masterstudiengänge).
Es lässt sich aber auch für neue Mitarbeiter einsetzen, die ihre Einführungsschulungen absolvieren müssen.
Wie auch bei der Softwareentwicklung nach SCRUM müssen die Lern- und Arbeitsstunden nicht synchron bzw. in einem Klassenraum stattfinden. Viele Aufgaben können in Einzelarbeit bewältigt werden und Gruppenarbeiten (wie die regelmässigen Schätzmeetings, das Sprint Planning, das Story Picken und die Daily Scrums) lassen sich in der Regel virtualisieren (in klassischen VCs oder bei der Erarbeitung bzw. dem Ausprobieren weicher Themen auch in einem 3D VC)

(Beitrag von Martin Geisenhainer)